Die Enten vom Russenfriedhof
Auf den Spuren der Sowjetarmee
Vorwort
Die Sowjetarmee [1] hatte nach dem 2. Weltkrieg keinen guten Stand bei der deutschen Bevölkerung. Zum einen saß die Angst vor den Russen tief, zum anderen gab es genug Übergriffe und Gewalttaten zwischen den Zivilisten und den Soldaten. Auch wurde die Niederschlagung des Aufstandes am 17. Juni 1953 durch die Sowjetarmee unterstützt. Und später, als die Sowjetarmee zum DDR-Alltag gehörte, kam es immer wieder zu Vorkommnissen wie Diebstähle oder Unfälle. Aufklärungen waren nie vorgesehen. Auch die verordnete Deutsch-Sowjetische Freundschaft [2] konnte daran nichts ändern. Das Mißtrauen blieb. Gern wurden die sowjetischen Truppen gerufen, wenn es um Unterstützung ging. Sei es bei der Ernte oder als Helfer bei Naturkatastrophen, die Soldaten kamen und halfen mit, boten solche Anlässe Abwechslung in ihrem ansonsten streng kontrollierten Alltag. [3] Bei allen Erinnerungen vergisst man aber immer wieder eines: die Soldaten waren nicht freiwillig hier! Angeregt durch die Fotoausstellung „Vergessen“ [4] von Joachim Liebe [5] beschäftigen wir uns etwas intensiver mit dem Thema. Auf der Suche nach den Spuren der Sowjetarmee sind wir schon länger. Diese Spuren existieren jedoch kaum noch. Die meisten Bauwerke wurden abgerissen, um Platz für Neues zu schaffen. Die Fotoausstellung steht dem Vergessen gegenüber, sie zeigt russische Bauwerke und Denkmäler, Inschriften und Statuen, sie wirft einen Blick in den Alltag der Sowjetarmee, zeigt aber auch Fotos von Gräbern. Bislang hatten wir Friedhöfe ausgelassen. Doch die gehören genauso zur Spurensuche. Durch die Ausstellung wird uns die Bedeutung erst bewusst. Ein solcher Friedhof steht aufgrund seines Status als Kriegsgräberstätte unter besonderem Schutz, darf nicht entwidmet werden und die Präsenz der Sowjetarmee dort ist ungebrochen stark. In Brandenburg existieren einige sowjetische Ehrenfriedhöfe. Einer davon ist der Friedhof in Potsdam an der Michendorfer Chaussee. Oft fuhren wir daran vorbei. Nun halten wir an.
Der Friedhof
Der Friedhof wurde auf Anordnung der russischen Kommandantur 1946 angelegt. Er liegt im Potsdamer Forst direkt an der B2. Zwei Torgebäude im neoklassizistischen Stil geben dem Eingangsbereich einen ehrwürdigen Rahmen. Der Hauptweg, der zu einem Ehrenhain führt, wird beidseitig gesäumt von üppigen Rhododendronbüschen. Blumenbeete wurden angelegt, ein paar Sitzbänke stehen bereit und um den Ehrenhain herum sind die Gräber angeordnet. Insgesamt wurden hier zwischen 1946 – 1985 mehr als 5000 Tote bestattet.
Spurensuche
Gleich nachdem der Friedhof entstand, nahm man viele Umbettungen vor. Aber nicht alle Toten sind Kriegsopfer. Als Kriegsopfer gilt, wer bis zum 31. März 1952 an den Folgen des 2. Weltkrieges verstarb. [6] Die letzte Beerdigung auf diesem Friedhof fand Mitte der 1980er Jahre statt. Also ist der Friedhof nicht nur letzte Ruhestätte für die im Krieg gefallenen Soldaten, sondern auch für verstorbene Soldaten der Potsdamer Garnison und für die Angehörigen. Der Friedhof wurde in viele Grabfelder aufgeteilt. Wir versuchen, ein System zu finden, nach welchem man die Toten hier begrub. Sicher spielte der militärische Rang eine wichtige Rolle, denn die höheren Ränge, erkennbar an den etwas aufwändiger gestalteten Gräbern, finden sich im vorderen Teil des Friedhofs. Weiter hinten zum Wald hin entdecken wir die einfachen Soldatengräber. Hier wurden die Toten chronologisch nach Sterbedatum beigesetzt. Ein Datum hat eine besondere Bedeutung:
1. März 1962
Das war der Tag des Bahnunglücks bei Trebbin [7]. Ein Militärzug, beladen mit Panzern, kollidierte aufgrund der sich lösenden Ladung mit einem entgegenkommenden Personenzug. Wieviel Menschen dabei den Tod fanden, wurde nie geklärt. Auch die Zahl der toten Sowjet-Soldaten ist bis heute unklar. Einige von ihnen fanden auf dem Friedhof ihre letzte Ruhe. Ihre Gräber wurden zufällig von einer Beelitzer Steinmetz-Firma entdeckt, die dort vor einigen Jahren Grabsteine restaurierte. Man stieß auf 15 Soldatengräber mit dem gleichen Todesdatum – den 1. März 1962. Journalist Bernd Herrmann befragte Augenzeugen und Ortschronisten und hatte dann die Idee, daraus einen kleinen Dokumentationsfilm zu drehen, der anlässlich des 50. Jahrestages des Unglücks im Fernsehen gezeigt wurde [8] [9] [10].
Bestattungskultur
Die russische Bestattungskultur unterscheidet sich von der deutschen in einigen Details. So werden die Verstorbenen im offenen Sarg aufgebahrt, im Familienkreis verabschiedet und auch im offenem Sarg zu Grabe getragen. Man nimmt sich Zeit. Auf dem Grabstein findet sich oft ein Foto des Toten, das den Angehörigen fast wichtiger als die Daten des Verstorbenen ist. Dadurch wirkt das Grab persönlicher. Fast gewinnt man den Eindruck, der Familie nahe zu sein. Widmungen der Hinterbliebenen auf dem Grabstein unterstreichen diese Wirkung. Auf eine Grabpflege, wie wir sie hierzulande kennen, legt man weniger Wert. Es geht nicht vorrangig darum, ob und wie die Gräber bepflanzt sind. Es ist wichtig zu wissen, dass das Grab überhaupt da ist. Ein Ablauf der Ruhezeit für die Gräber ist meist nicht üblich. Ein Grab hat nach dem Verständnis der Angehörigen für die „Ewigkeit“ zu sein. Es fällt auf, dass vielen Gräbern kleine Beigaben hinzugefügt wurden wie zum Beispiel Kunstblumen, Porzellanfiguren, Kerzen und andere Erinnerungsstücke.
Enten
Wir stutzen, als wir sie sehen, die kleinen gelben Gummi-Enten auf einem Grabfeld. Hier liegen auch Spielzeugautos, Gummibälle und Stofftiere. Es sind ausschliesslich Kindergräber. Vermutlich waren diese Kinder Angehörige der Offiziere, die mit ihren Familien im „Militärstädtchen Nr. 7“ im Norden Potsdams wohnten, in einer streng abgeriegelten Gegend. [11] Welche Schicksale mögen sich abgespielt haben? Wie gehen die Angehörigen mit der Tatsache um, dass ihre Kinder so weit weg beerdigt sind? Wer hat das Spielzeugauto, das Stofftier und die Enten auf die Gräber gelegt? Nicht alle Grabbeigaben wirken alt und verwittert. Kann die Familie überhaupt den weiten Weg auf sich nehmen, um das Grab zu besuchen? Laut Bericht des Potsdamer Friedhofleiters Gunther Butzmann [12] kam es selten zu Überführungen. Die deutsch-russische Beziehung ist leider kompliziert geblieben und macht es den Angehörigen schwer, Unterstützung zu erhalten.
спй спокойно
Weiter geht es über den Friedhof. Verwilderte Wege zeigen die Richtung. Die Atmosphäre ist t
rotz des heiteren Wetters bedrückend. Eine Grabstätte ist größer angelegt. Hier ruhen Mutter und Sohn. Daneben ein weiteres Kind. Alle drei starben am gleichen Tag. Ein Unfall? Ein weiteres Grab fällt auf. Auf dem Grabstein sind die Fotos von zwei Soldaten angebracht. Über den Bildern wurde ein Flugzeug eingraviert. Die Sterbedaten der beiden Soldaten sind identisch. Ob es sich hier um ein Flugzeugunglück handelte? Das eingravierte Flugzeug könnte ein Hinweis sein. Es könnte aber auch nur als offizielles Symbol der jeweiligen Waffengattung stehen, der die beiden angehörten. [13] Wir haben den darunter stehenden Text übersetzen lassen [14], doch uns ist klar; wir werden nichts erfahren. Die Sowjetarmee hat solche Informationen stets für sich behalten. Teilweise stehen die Akten bis heute unter Verschluss. [7], [15]
Auf einem Grabfeld werden Soldatengräber restauriert. Ein anderes Feld ist schon fertig. Hier wurden einige neue Grabsteine gesetzt, viele davon gelten unbekannten Soldaten.
спй спокойно боево́й това́рищ
Ruhe in Frieden Kampfgenosse
Offene Fragen
Wir haben noch weitere sowjetische Friedhöfe besucht. Auch diese sind sehenswert und lassen nach dem Besuch viele Fragen offen. Warum steht an einem Doppelgrab nur ein Grabstein? Weshalb hat man zwischen zwei Soldatengräbern ein Kind bestattet? Weswegen löschte man einige Zeilen von einer Grabsteininschrift wieder aus? Wieso ist auf einem Stein nicht nur das Sterbedatum, sondern auch die Uhrzeit zu erkennen? Die Antworten werden wohl nur die Angehörigen kennen. © Bunkerratten, Beelitz, 08. Mai 2015
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